Ypern: Chlorgas, Senfgas und der Erste Weltkrieg


Der Erste Weltkrieg gilt als tiefer Einschnitt in der Geschichte der Menschheit. Wolfgang J. Mommsen spricht von einer „historischen Epochenscheide“ und dem „Ende der Epoche des bürgerlichen Europa“1. Diese einschneidende Bedeutung kommt dem Ersten Weltkrieg nicht nur in der historischen Rückschau, sondern auch hinsichtlich des Denkens und Empfindens der Zeitgenossen zu. Die Ursache dafür liegt neben dem globalen Ausmaß der Kampfhandlungen, der bis dahin nicht dagewesenen Zahl an Opfern und dem extremen Leid der Zivilbevölkerung auch in der veränderte Art der Kriegsführung: das Massensterben im Stellungskrieg. Hervorzuheben ist die erstmalige Anwendung von chemischen Waffen im großen Maßstab.

Ursachen des Gaskrieges

Spätestens seit dem Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg im Oktober/November 1914 dachten einige der beteiligten Staaten über den Einsatz von Chemikalien nach, um sich Vorteile gegenüber dem Gegner zu verschaffen.2


Gasangriff

In Großbritannien wurde die Entwicklung von „Stinkbomben“ betrieben, mit denen Gegner zum Verlassen ihrer Unterstände bewegt werden sollen.3 Im Januar 1915 setzte die französische Armee Gewehrpatronen ein, die mit einem Tränengas (Bromessigsäure-ethylester) gefüllt sind.4 Beide Waffen erwiesen sich aber als weitgehend nutzlos.

Daß schließlich das deutsche Oberkommando zum massenhaften Gebrauch von tödlichen C-Waffen greift, beruht auf der besonderen Lage der Mittelmächte. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn waren abgeschnitten von Rohstofflieferungen (besonders Guano, Salpeter u.a. Nitrate), auf die zur Sprengstoff- und 

Schießpulverproduktion nicht verzichtet werden konnte. Ohne Lösung dieses Problems wäre das Deutsche Reich bereits 1915 gezwungen gewesen, um Frieden zu bitten.5 Durch die weltweit unangefochtene Spitzenstellung der deutschen Chemie-Industrie gelang es zunächst, diesen Mangel zu kompensieren, indem aus Luft-Stickstoff über die Haber-Bosch’sche Ammoniaksynthese und ein anschließendes spezielles Oxidationsverfahren synthetische Nitrate hergestellt wurden.6

Der seit November 1914 festgefahrene Stellungskrieg brachte allerdings einen derartigen Anstieg des Bedarfs an Schießpulver mit sich, daß auch auf diese Weise der Bedarf nur mühsam zu decken war. Gleichzeitig fielen in der chemischen Industrie giftige Substanzen wie Chlor, Brom und andere quasi als Abfallprodukte an. Eine Arbeitsgruppe der Kriegsrohstoffbehörde unter Leitung von Fritz Haber begann daraufhin mit der Entwicklung von Giftgas-Waffen.


Verlauf des Gaskrieges

Am 31. Januar 1915 fand der erste Einsatz von Tränengasgranaten an der Ostfront bei Bolimov, ab März 1915 auch an der Westfront statt. Die Effektivität dieser Waffe wurde von der deutschen Generalität als gering eingeschätzt .7

Am 22. April 1915 kam es dann bei Ypern zum ersten Einsatz von Chlorgas. Deutsche Truppen setzten nach einer eigens entwickelten Methode, dem Haber’schen Blasverfahren, eine riesige Gaswolke frei. Dabei mußte auf eine günstige Windrichtung gewartet werden, um den giftigen Nebel auf die Stellungen der Alliierten zutreiben zu lassen. 150 Tonnen Chlor wurden nur bei diesem Angriff angewandt.8 Die deutschen Soldaten, mit einem groben Atemschutz aus feuchter Gaze ausgerüstet, bewegen sich hinter den Gasschwaden her. Die tödliche Effizienz des Angriffes - es gelang, die Front der Alliierten auf sechs Kilometer Länge aufzureißen – wurde von deutscher Seite nicht erwartet. Es fehlten daher die nötigen Reserven, um die vorübergehende Überlegenheit zu nutzen.9

Die Wirkung der nun ständig (auch an der Ostfront) eingesetzten Gaswaffe blieb schrecklich, aber ein ähnlicher Überraschungseffekt geligt nicht wieder.10 Zur Abwehr waren die britischen, französischen und belgischen Truppen zunächst auf „Tücher, angefeuchtet mit Urin“11 angewiesen. Ab September 1915 stand ihnen der „Hypo-Helmet H.H.“ zur Verfügung, eine Schutzhaube mit Natriumthiosulfat-Filter, der das Chlorgas neutralisierte.12

Im Sommer 1915 begann Haber am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie (dem heutigen Max-Planck-Institut) mit der Forschung an Phosgen, dem nächsten, noch tödlicheren Giftgas.13 Bis Dezember desselben Jahres wurden an deutsche Truppen 9 Millionen „P-Masken“ ausgegeben, Gasmasken, die vor Phosgen schützen und somit dessen Einsatz ermöglichten.14

Erstmals eingesetzt wurde Phosgen (in Kombination mit Chlor) durch deutsche Truppen am 31. Mai 1915, wieder in Ypern.15


provisorischer Gasschutz

Bis zum 25. 9. 1915 waren die britischen Vorbereitungen zum chemischen Gegenschlag abgeschlossen, so daß es zum ersten alliierten Chlorgasangriff bei Loos kam.16 Von nun an war der Gaskrieg nicht mehr eine Geheimwaffe, mit der militärische Überlegenheit einer Kriegspartei zu erzielen wäre. Die folgenden Entwicklungen verlaufen nach einem gleichbleibenden Muster: deutsche Herstellung eines noch tödlicheren Gases und anschließend Analyse und eigene Produktion der Substanz durch die Alliierten. Parallel dazu werden Gasmasken perfektioniert, gleichzeitig die Wege der Giftgasverbreitung optimiert und Möglichkeiten gesucht, die Gasschutzmaßnahmen des Gegners unwirksam werden zu lassen.

Im Juni 1916 findet der erste britische Einsatz von Phosgen statt.17 Das Abfüllen der Giftgase in Granaten ermöglichte gezieltere Angriffe. Da unabhängig von der Windrichtung die Ausbreitung besser gesteuert werden kann, nehmen die Gasmengen dramatisch zu mit der steigenden Bedeutung von Gasgranaten.18 Der erste Einsatz von Senfgas am 12. 7. 17 durch deutsche Truppen, wieder bei Ypern, markiert die letzte verheerende Steigerung des Gaskrieges.19 Die alliierte Produktion von Senfgas kommt wegen der vorherigen Kapitulation der Mittelmächte nicht mehr zum Tragen.20

 

Die wichtigsten Kampfstoffe

Chlorgas (Cl2) elementares Chlor, ein gelbgrünes, erstickend riechendes Gas, ist sehr giftig. Als Atemgift reizt es die Schleimhäute und führt zu Atemnot, Husten, starker Schleim- und Wasserabsonderung und schließlich zum Tod durch Ersticken.21



Phosgen (COCl2) liegt oberhalb von 8°C als Gas vor. Es wirkt als Atemgift. Nur hohe Konzentrationen lösen Tränenreiz, Husten und Atemnot aus. Nach Inhalation kommt es nach mehrstündiger symptomfreier Latenzzeit zur Ausbildung eines Lungenödems, das oft zum Tode führt. Da es schon in sehr viel gereingeren Konzentrationen als Chlor giftig bzw. tödlich wirkt, wurde es vielfach in Kombination mit Chlorgas zur Erhöhung der Giftwirkung eingesetzt.22

Senfgas (Lost) ist eine hochtoxische Substanz mit knoblauch- oder senfartigem Geruch. Da es seine Giftwirkung nicht nur über die Atemwege, sondern auch über die Haut entfaltet, also ein Kontaktgift darstellt, stellte es eine Möglichkeit dar, die Schutzfunktion der Gasmasken zu umgehen. Senfgas hemmt eine Reihe von Enzymen und schädigt die DNA. Daraus resultieren nach einer Latenzzeit von mehreren Stunden schwere Entzündungen der Haut, die großflächigen Verbrennungen ähneln. Weiterhin kommt es zu Schäden der Atemwege und des zentralen Nervensystems. Neben der akuten Toxizität besitzt Senfgas hochgradig kanzerogene Eigenschaften.23




Der Gaskrieg – ein Kriegsverbrechen?

Die Haager Landkriegsordnung von 1899 verbot zunächst nur, „Geschosse zu benutzen, die die Ausbreitung von zu Erstickung führenden oder schädlichen Gasen bewirken.“

Die Argumentation von deutscher Seite, die Freisetzung von Giftgaswolken stelle damit keine Verletzung internationalen Rechts dar,24 ist nicht nur zynisch, sondern schlicht falsch. Denn die ergänzende Haager Konvention von 1907 verbot darüberhinaus auch „die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen.“

Der militärische Einsatz von Giftgas, sei es als Gasgranate oder mittels des Haber'schen Blasverfahrens, ist also ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht und muß daher als Kriegsverbrechen bezeichnet werden.

Die verbleibende Argumentation zur Rechtfertigung der deutschen und alliierten C-Waffen-Angriffe basiert auf der Behauptung, die jeweils andere Seite habe zuerst gegen das Verbot verstoßen und die eigene Reaktion habe nur der Wiederherstellung des militärischen Gleichgewichtes gedient.

Schon im Januar 1915 experimentierten französische Einheiten mit gashaltigen Geschossen. Da die verwendete Substanz, ein Bromessigsäureester, nur Tränengas-Wirkung aufweist und ihre versuchsweise Anwendung weder die Tötung noch die Verletzung feindlicher Kombattanden anstrebte, sondern lediglich vorübergehende Kampfunfähigkeit auslösen sollte, ist zumindest zweifelhaft, ob es unter die entsprechenden Klauseln der Haager Verträge fällt.25 Bereits vorher hatte auch das Deutsche Reich Reizstoffe erprobt.26 Aber selbst wenn man von einem französischen Verstoß gegen das Giftgas-Verbot ausgeht, wäre durch seine militärische Wirkungslosigkeit keine Rechtfertigung der Chlorgas-Angriffe von Ypern gegeben.27 Die mit den deutschen Gasangriffen an der Westfront verbundene verheerende Wirkung allerdings machte entsprechende Antworten der Alliierten erforderlich.

Die Einschätzung, daß der Giftgaskrieg neben dem unerklärten Angriffskrieg auf Belgien und den besonders in Belgien begangenen Greueltaten an der Zivilbevölkerung28 ein weiteres Kriegsverbrechen darstellte, teilten offensichtlich auch die Akteure. Fritz Haber floh nach Kriegsende zunächst in die Schweiz.29 Wilhelm II. begab sich ins Exil in die Niederlande, die seine Auslieferung ablehnten.30


Links

Übersicht über Geschichte, Toxikologie und Analytik von C-Waffen:

http://www.m-ww.de/kontrovers/abc_waffen/c_waffen.html

Ein Text auf der Seite der Gesellschaft für Verantwortung in der Wissenschaft e.V.:

http://staff-www.uni-marburg.de/~gvw/texte.mix/chemie_kampfstoffe.html

Caroline Lahusen: Erster Weltkrieg. Der Tod aus dem Labor

http://www.geo.de/GEO/kultur_gesellschaft/geschichte/2004_09_GEO_epoche_giftgas/

Schweizerische Fachstelle für ABC-Schutz:

http://www.labor-spiez.ch/

Eine knappe „Geschichte der Giftgase“:

http://www.gasmaske.info/chemie/history.htm


Literatur

Hermann Büscher: Giftgas! Und wir? 2. Auflage, Leipzig 1937

Olaf Groehler: Der lautlose Tod. Einsatz und Entwicklung deutscher Giftgase 1914 bis 1945. Reinbek bei Hamburg 1989

Robert Harris/Jeremy Paxman: Der lautlose Tod. Die Geschichte der biologischen und chemischen Waffen. München 2002

Hunnius. Pharmazeutisches Wörterbuch. 7. Auflage. Berlin, New York 1993

Martinetz, Dieter, Der Gaskrieg 1914-1918. Entwicklung, Herstellung und Einsatz chemischer Kampfstoffe. Bonn 1996

Wolfgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt/Main 2004

Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber. 1868 – 1934. München 1998


Mommsen, S. 7

Martinetz, S. 9

Harris/Paxman, S. 25

Martinetz, S. 9

ebd., S. 10ff

ebd., S. 25

ebd., S. 17. Vgl. Harris/Paxman S. 25

Szöllösi-Janze, S. 329

Harris/Paxman, S. 13-16

ebd., S. 28

ebd., S. 21

Martinetz, S. 97

Harris/Paxman, S. 29

ebd., S. 37

http://de.wikipedia.org/wiki/Grünkreuz; in Reinform wird Phosgen zuerst am 19. Dezember desselben Jahres benutzt (Harris/Paxman, S. 37).

Harris/Paxman, S. 30

ebd., S. 40

ebd., S. 45

http://www.m-ww.de/kontrovers/abc_waffen/senfgas.html, 23. Februar 2005

Harris/Paxman, S. 55

http://www.m-ww.de/kontrovers/abc_waffen/c_waffen_detail.html?page=2, 23. Februar 2005; vgl. Hunnius, Stichwort „Chlor“

http://www.m-ww.de/kontrovers/abc_waffen/phosgen.html, 23. Februar 2005; vgl. Hunnius, Stichwort „Phosgen“

http://www.m-ww.de/kontrovers/abc_waffen/senfgas.html, 23. Februar 2005

z.B. schreibt die Kölnische Zeitung vom 26. Juni 1915 (laut Harris/Paxman S. 20), das Freisetzen von Giftgaswolken sei nicht nur völkerrechtlich zugelassen, da keine Geschosse verwendet würden, „sondern auch eine außerordentlich milde Art der Kriegführung“.

Harris/Paxman bezeichnen „Stinkbomben“ und Tränengas als „Waffenarten, die von der Haager Konvention zugelassen waren“ (S. 25). Sie geben damit die in den allierten Staaten allegemein verbreitete Auffassung wieder.

http://www.gasmaske.info/chemie/history.htm, 24. Februar 2005



Martinetz, S. 9

vgl. dazu: John Horne/Alan Kramer: Die umstrittene Wahrheit. Deutsche Kriegsgreuel 1914. Hamburg 2004

„In der Befürchtung, dass er als Kriegsverbrecher behandelt werden würde, verschaffte sich Fritz Haber einen falschen Bart und setzte sich bei Kriegsende in die Schweiz ab.“ (Harris/Paxman, S. 60).

www.bautz.de/bbkl/w/wilhelm_ii.shtml, 24. Februar 2005































































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